Nie wieder? Schon wieder!

Eine besondere Empfehlung für die Lektüre von Michael Wolffsohns neuem Buch.

Von Wolfgang Geiger

Zum Holocaust-Gedenktag 2024 am 27. Januar bringt der Herder-Verlag ein neues Buch von Michael Wolffsohn heraus: Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus. Es ist ein großer Essay in mehreren Teilen. Im Mittelpunkt stehen zwei Redemanuskripte zur Gedenkstunde an den Novemberpogrom 1938 am 9.11.2023 im Berliner Abgeordnetenhaus, wozu Wolffsohn als Gastredner geladen war. Das erste Manuskript ist die vor dem 7.10. vorbereitete Rede, das zweite die dann gehaltene. Warum sie sich unterscheiden, liegt auf der Hand.

Ein längerer Vor- und Nachspann ergänzen Wolffsohns Überlegungen zum Thema neuer alter Antisemitismus in Bezug auf Israel, aber nicht nur. Der Horizont in dem kleinen Buch ist weit gesteckt, zeitlich und räumlich, und fast jede Seite ist schon ein Thema für sich. Der Bogen spannt sich zum einen von den Ursprüngen Israels im Altertum zu Israel heute im Nahen Osten und in der globalen Welt, sowie zum anderen vom Antisemitismus in Deutschland, der in den Holocaust gemündet hat, über den Umgang damit in Deutschland (Ost und West) nach 1945 hin zum bleibenden bzw. israelbezogen erneuerten Antisemitismus bis nach dem Schwarzen Schabbat am 7. Oktober.

Der essayistisch geschriebene Text formuliert in manchmal drastischer Sprache eine drastische Kritik an Heuchelei und formalistischem Anti-Antisemitismus von offizieller Seite, wie er sich, rituell „pfäffisch vorgetragen“, in vielen offiziellen Bekundungen äußert. Wolffsohn zerstört Illusionen und Trugbilder bei jenen, die sie unbewusst hatten, und bewusste Verdrängungen, die es auch gibt. So die Tabuisierung des Antisemitismus in muslimischen Kreisen von Migranten (ohne Pauschalisierung!) und die Vernachlässigung des linken Antisemitismus, die beide zum 7.10. ihr besonderes coming out und coming together hatten. Wogegen immer schon die allermeisten Erfahrungen verbaler und physischer Gewalt gegen Jüdinnen und Juden durch muslimische Täter erfolgten, aber der Hinweis darauf den Vorwurf der Islamfeindichkeit einbrachte. Und vor mehreren Jahrzehnten konnte auch ich an der Uni schon sehen, wie israelbezogener Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antiimperialismus begann.

Wolffsohn zeigt auch eine heuchlerische Seite der offiziellen Haltung zu Israel auf, jedenfalls vor dem 7.10., mit Zitaten von Bundeskanzlern oder anderen hohen Politkern, die unterhalb der offiziellen Ebene alles andere als später die Merkelsche „Staatsräson“ zum Ausdruck brachten. Und wie beim öffentlichen „Für Antisemitismus ist in Deutschland kein Platz!“ geht es auch für den Bildungsbereich vor allem um die Beruhigung des eigenen Gewissens. Es ist eine simplistische Vorstellung, mit simpler Bildung ließe sich Antisemitismus präventiv bekämpfen, waren doch die historischen Antisemiten zuallererst Hochgebildete.

Soweit zentrale Thesen von Wolffsohn, nicht die einzigen. Optimismus zeigt sich hier nicht, aber Wolffsohn ist auch kein Defätist, er lässt der Leserin und dem Leser durchaus Spielraum zum produktiven Nachdenken, selbst wenn man nicht mit allem einig geht. Die Form des Essays kommt ohne Nachweise auf das Behauptete aus und baut auf das Vertrauen in den Autor. Nicht nur wer Zweifel hat, kann die neuralgischen Zitate im Internet überprüfen und wird immer fündig, wenn auch nicht unbedingt auf den ersten Klick. Dies wäre auch eine schöne Aufgabe zur Internetkompetenz für Schülerinnen und Schüler.

Wolfgang Geiger
Mitglied des Arbeitskreises Deutsch-jüdische Geschichte
Redaktionsmitglied von Geschichte für heute
Vorsitzender des Hessischen Landesverbandes