Erklärung des VGD zum Angriffskrieg auf die Ukraine

Erklärung des VGD zum Angriffskrieg auf die Ukraine

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die aktuellen Ereignisse in der Ukraine berühren und fordern uns als Geschichtslehrerinnen und -lehrer. Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine, die Opfer eines Angriffskrieges geworden sind, mit dem in der Bundesrepublik im Kern niemand mehr gerechnet hat: Vielleicht haben wir uns zu sehr in Illusionen einer gewalt- und niedertrachtfreien Welt eingerichtet und stehen nun vor den Trümmern unseres Weltbildes. Der Zusammenbruch der zu Beginn der Neunzigerjahre entstandenen Sicherheitsordnung vor unseren Augen, der ruchlose Angriffskrieg des russischen Regimes gegen ein friedliches Land und seine Bewohner, in dem sich eine Zivilgesellschaft entwickelt hat, die erkennbar westlich orientiert ist, beschwört zu Recht Ängste in uns herauf und zwingt uns, die Entwicklungen der letzten Jahre neu zu interpretieren. Die Solidarisierung mit der Ukraine und ihrer Bevölkerung in den Gesellschaften des Westens ist eindrucksvoll.

Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges wird auf breiterer Ebene und mit viel weiter gehenden Konsequenzen als im Krieg im ehemaligen Jugoslawien das seit 1899 (erste Haager Landkriegsordnung) etablierte und seither in vielen internationalen Abkommen weiterentwickelte Völker- und Kriegsrecht in Europa selbst brutal gebrochen: durch den Angriff als solchen, aber auch durch die Kriegführung gegen zivile Ziele, d. h. gegen die Zivilbevölkerung – eine Kriegführung, von der zu dem Zeitpunkt, an dem wir dies schreiben, noch nicht abzusehen ist, welche Dimensionen der Vernichtung sie noch erreichen kann.

Die Begründungen hierfür auf der offiziellen Ebene – Denazifizierung, Demili-tarisierung, Abwehr eines Angriffs der Ukraine auf Russland (letzteres von Außenminister Lawrow am 10.03.2022) – sind so absurd, dass sie nicht einmal mehr Verständnis oder auch nur kognitives Verstehen in der Öffentlichkeit beabsichtigen, sondern einfach nur Ausdruck dessen sind, dass es keine vorzeigbare Begründung dafür gibt.

Unterhalb dieser offiziellen Ebene wird seit Jahren in Äußerungen von Präsident Putin der Ukraine das Existenzrecht als eigenständiger Staat abgesprochen mit historischen Argumenten, dass die Ukraine ein Teil Russlands und eine Selbstständigkeit künstlich sei. Die Ukraine hat zweimal ihre Unabhängigkeit erklärt, das erste Mal in der Russischen Revolution beim Zerfall des Zarenreiches 1917/18, und das zweite Mal beim Zerfall der Sowjetunion 1991. Sie tat dies aufgrund des Artikels 73 der sowjetischen Verfassung von 1977, der ihr das Recht dazu gab und mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft erstmals in Anspruch genommen werden konnte. Diese Entscheidung wurde in einem Referendum mit über 90% Zustimmung getroffen.

Nicht zum ersten Mal wird die Geschichte zu politischen Zwecken und auch zur Rechtfertigung von Krieg missbraucht. Die Geschichte seit 1991 und letztlich seit dem historischen „Fehler“ Lenins mit der föderalen Sowjetverfassung (laut Putins Erklärung vom 21.02.2022) soll durch diesen Krieg korrigiert werden. Dieser Krieg bliebe wohl auch nicht der letzte, wenn er denn erfolgreich endete. Der historisch einzigartige Widerstandswille der ukrainischen Bevölkerung zeigt jedoch tagtäglich, wie sehr das Unabhängigkeitsbewusstsein der in der Ukraine lebenden Menschen, und darunter auch vieler russischsprachiger Ukrainerinnen und Ukrainer, durch den Versuch der Korrektur der Geschichte gestärkt wird.

Auf das Fach Geschichte kommt es in diesen Tagen besonders an. Unser Plädoyer lautet: thematisieren Sie Russland und die Ukraine im Unterricht. Der Verband und einige Landesverbände haben Stellungnahmen zu den Ereignissen auf ihren Homepages veröffentlicht, ihre Mitglieder angeschrieben und Links zu Unterrichtsmaterialien eingestellt. Angesichts der weltpolitischen Auswirkungen und des Leides in der Ukraine kann es in menschlicher Hinsicht nur um uneingeschränkte Solidarität gehen. Jede/r von uns mag dies auf ihre/seine persönliche Weise zum Ausdruck bringen. Als Geschichtslehrerinnen und -lehrer sind wir allerdings ganz besonders gefordert. Abgesehen von den Schülerinnen und Schülern dürften nicht alle Kolleginnen und Kollegen hinreichend über die historischen Hintergründe des Konfliktes informiert sein. Zudem ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Geschichte zwar vieles hinterfragen und erklären, aber nicht lösen kann. Im Sinne der Werte- und Demokratieerziehung ist unser Fokus definiert: Geschichtsunterricht darf weder einen Krieg noch die Unterdrückung eines Volkes legitimieren. Propaganda und Fake-News müssen im Unterricht dekonstruiert und analysiert werden. Der Gegenwartsbezug zwingt uns dazu, Position zu beziehen und nicht neutral zu bleiben. Unter diesen Voraussetzungen müssen dann aber auch immer Perspektivübernahmen möglich sein. Sich beispielsweise aus russischer Perspektive mit möglichen Szenarien zur Beendung des Krieges zu beschäftigen, heißt keinesfalls, sich mit Putins Seite gemein zu machen. Vergessen Sie dabei aber auch nicht, zwischen dem russischen Volk und seinem Regime zu unterscheiden.

In der aktuellen Lage wäre es schwer vermittelbar, wenn der Geschichtsunterricht angesichts einer international geeinten Öffentlichkeit nicht über die Präsentation eines multiperspektivischen Arrangements hinaus- und ohne Werturteile auskäme. Mit einem klaren Bekenntnis zu Frieden und Freiheit – und das heißt hier: mit einer Positionierung auf der Seite der Ukraine – stehen wir zugleich für die Voraussetzungen ein, die eine historische Bewusstseinsbildung in einer offenen Gesellschaft erst ermöglichen.

Für den Vorstand des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer

Dr. Peter Johannes Droste

Bundesvorsitzender                                                                      Aachen, den 14.3.2022

Erklärung von Euroclio: https://euroclio.eu/