Würzburger Erklärung 1995 zur Entwicklung der Gymnasialen Oberstufe
- Verband Deutscher Schulgeographen e.V.
- Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V.
- Deutsche Vereinigung für Politische Bildung e.V.
„Würzburger Erklärung“ zur Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe
Die drei Fachverbände der Fächer Erdkunde/Geographie, Geschichte und Sozialkunde/Gemeinschaftskunde/Politik haben sich in der Frage der Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe für die Beratungen der Kultusministerinnen und Kultusminister (Klausurtagung „Loccum 4“) auf folgende Empfehlung geeinigt:
Historische, politische und geographische Orientierung sind und bleiben notwendige Elemente der Studierfähigkeit. Dies erfordert die Erhaltung des Gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes in der gymnasialen Oberstufe, das besonders die Prinzipien fächerübergreifenden Lernens und die Vernetzung von Inhalten und Methoden verwirklichen konnte und kann. Zur Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen und zur Förderung der Studierfähigkeit ist es unabdingbar, dass den Schülerinnen und Schülern die bisherigen Wahlmöglichkeiten in Grund- und Leistungskursen erhalten bleiben. Unabdingbar ist es auch, dass ein Fach aus dem Gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld Pflichtfach in der Abiturprüfung bleibt. Schule hat die Aufgabe, Schülerinnen und Schülern zu helfen, ihre Orientierung in bezug auf die Wirklichkeit zu gewinnen und damit die Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu fördern.
Die Wirklichkeit der menschlichen Lebensverhältnisse ist der Gegenstand der drei Fächer: Zeit, Raum und polis – letztes im Sinne der Gesamtheit des Gemeinwesens. Nur durch die Gesamtschau der drei Fächer kommt die Sicht auf die menschliche Wirklichkeit zustande; nur durch ihr Zusammenwirken vermitteln sie den je spezifischen Blick auf die Welt. Eine angemessene Sicht der komplexen Wirklichkeit gewinnen Schülerinnen und Schüler durch alle drei Fächer gemeinsam, denn Raum kann nicht ohne Zeit wahrgenommen werden, Polis nicht ohne Raum und Zeit; Zeit, Raum und Polis aber konstituieren Lebenswirklichkeiten. Das Fachprinzip ist im Falle der Fächer Geschichte, Erdkunde/Geographie, Sozialkunde/Gemeinschaftskunde/Politik notwendig, weil jedes der Fächer eine notwendige Perspektive auf menschliche Wirklichkeit hat und über ein dafür geeignetes methodologisches Konzept verfügt. Es ist aber zugleich nicht hinreichend, weil die Komplexität der zu vermittelnden Fähigkeiten und Kenntnisse einen differenzierten und zugleich integrierenden Zugriff auf die Wirklichkeit verlangt. Dies bedeutet, dass die Fächer aufeinander angewiesen sind, da sie sonst die Wirklichkeit nicht mehr vermitteln. Sie müssen füreinander offen sein, Überschneidungen der Perspektiven zulassen. Das grundsätzliche Bestreben, dem Schüler ein komplexes Bild der Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven zu ermöglichen, ist konstituierend für politische Bildung. Politische Bildung, wie sie die drei Fächer vermitteln, ist kein Bildungsinhalt wie alle anderen auch. Diese Fächer sind in besonderer Weise dazu bestimmt, die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre künftigen Aufgaben und Entfaltungsmöglichkeiten als Bürgerinnen und Bürger in einer demokratisch verfassen Gesellschaft zu entwickeln. Und damit ist politische Bildung zentrale Aufgabe des Staates, der sich dieser durch entsprechende Ausstattung der Fächer zu stellen hat.
Erdkunde / Geographie
Geographische Bildung und Umwelterziehung sind Bestandteil der Allgemeinbildung verantwortungsbewusster und aktiver Bürger in einer sich verändernden Welt (Internationale Geographische Union: Prager Erklärung 1994). Intention geographischer Bildung und Umwelterziehung sind vor allem:
- Europaerziehung,
- Internationale Erziehung,
- Entwicklungspolitische Erziehung,
- Ökologische Erziehung.
Geographen stellen folgende Fragen:
- Wo ist es?
- Wie ist es?
- Warum ist es dort?
- Wie geschah es?
- Welchen Einfluss hat es?
- Wie sollte es zum gegenseitigen Nutzen von Mensch und Natur gestaltet werden?
Erdkunde / Geographie erschließt die Kategorie Raum als Wirklichkeit der menschlichen Lebensverhältnisse unter ganzheitlichen Betrachtungsweisen und vernetzender Zugriffe geowissenschaftlicher, wirtschaftswissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher Horizonte.
Inhaltliche Grundlagen des Geographieunterrichts sind
- Räumliche Orientierung,
- Physische Geographie,
- Kulturgeographie.
- Vernetzende Verfahren im Geographieunterricht sind
- Regionale Geographie,
- Raumplanung,
- Internationale Beziehungen,
- Umwelterziehung.
Erdkunde/Geographie erschließt die Kategorie Raum als Wirklichkeit der menschlichen Lebensverhältnisse in unterschiedlichen Dimensionen, nämlich in den Maßstäben von Heimat, Regionen und Nation, im Maßstab Europa und anderer Kulturgroßräume der Erde, im globalen Maßstab der Geosphäre.
Erdkunde/Geographie erschließt die Kategorie Raum als Wirklichkeit der menschlichen Lebensverhältnisse durch thematische Akzentuierungen wie Geoökologie und Umweltfragen, Landwirtschaft und Agrarpolitik, Geotektonik und Rohstoffversorgung einer wachsenden Menschheit, Industrialisierung und Regionalpolitik, Raumordnung in städtischen und ländlichen Räumen, Entwicklungsländer und Entwicklungspolitik, Regionale Geographie.
Wertevermittlung und Handlungsorientierung sind übergeordnete Ziele geographischer Bildung und Umwelterziehung. Sie beïnhalten eine Verantwortungsethik der Bewahrung der Erde, Zukunftsfähigkeit sowie territoriale Identität.
Geschichte
Menschen und Gesellschaften bilden ihre Identitäten, indem sie – ausgehend von ihrer Gegenwart – auf die Vergangenheit zurückgreifen und sich auf die Zukunft vorbereiten. Sie erleben und erfahren sich in der zeitlichen Kontinuität. Erfahrungen aus der Vergangenheit werden unter dem Horizont der Gegenwart gedeutet und die gewonnene Deutung orientiert auf die Zukunft. Geschichte Menschen und Gesellschaften bilden ihre Identitäten, indem sie – ausgehend von ihrer Gegenwart – auf die Vergangenheit zurückgreifen und sich auf die Zukunft vorbereiten. Sie erleben und erfahren sich in der zeitlichen Kontinuität. Erfahrungen aus der Vergangenheit werden unter dem Horizont der Gegenwart gedeutet und die gewonnene Deutung orientiert auf die Zukunft. Geschichte ist der Dialog von Vergangenheit und Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft (Carr).
Unterricht in Geschichte verfolgt das Ziel,
- die Lernenden bei der Bildung ihrer sich in der Zeit erstreckenden Identität zu unterstützen,
- die Lernenden bei der Bildung eines reflektierten Verhältnisses zwischen sich und der Geschichte der kollektiven Lebensordnungen zu unterstützen,
- die dabei ablaufenden Prozesse ins Bewusstsein zu heben.
Geschichtsunterricht geht von der Analyse gegenwärtiger Probleme und Phänomene sowie von Zukunftserwartungen aus und reflektiert sie anhand historischer Erfahrungen. (Der Frage Wo? Liegt immer die Frage nach dem Wohin? zugrunde, und beides provoziert die Frage nach dem Woher?) Voraussetzung für den sachgerechten Umgang mit der Geschichte ist die Anerkennung der Eigenständigkeit vergangener Epochen im Hinblick auf deren Mentalitäten und Sinngebungen. Die Methode, die Fragestellungen der Gegenwart aus der Perspektive der Vergangenheit zu sehen, macht eine Erfahrung notwendig, die das Andersartige der Vergangenheit zu verstehen sucht. Der Zugang zu Vergangenheit ist die Erfahrung; der Rückweg aus der Vergangenheit ist die Deutung; der Blick in die Zukunft erfordert die Orientierung. Methodisch erarbeitete historische Erfahrungen relativieren die eigene Position, können sie aber zugleich stärken; sie mobilisieren das alternative Denken und Urteilen und machen für das Zukunftshandeln fähig. Gleichzeitig versetzen sie den Menschen in die Lage, an der öffentlichen Diskussion geschichtsgeleiteter Gegenwartserklärungen und Zukunftsentwürfe teilzunehmen. Inhaltlich gesehen geht es im Geschichtsunterricht um
- Erfahrung menschlicher Lebensformen, Verhaltensweisen und Auseinandersetzungen,
- Erfahrung sozialer und politischer Grundformen und Möglichkeiten,
- Erfahrung des geschichtlichen Weges des deutschen Volkes und seiner staatlichen Lebensformen in seiner Einbindung in die europäische Geschichte und in die Weltgeschichte.
- Umgang mit der Geschichte erfordert eine fachspezifische Methodik, deren Anwendung auch pädagogisch höchst erwünschte Ziele verwirklichen kann:
- Unterschiedliche Herangehensweisen an die zeitlichen Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Entwicklung von Zeitbewusstsein),
- Entwicklung von Informationskompetenz,
- Entwicklung von Denken in Multikausalität und Multiperspektivität,
- Entwicklung von Standpunktwechsel (Rollenkompetenz) und sachgerechter Kommunikation,
- Entwicklung der Reflexion über Deutungsmuster, deren Leistungsfähigkeit für die Orientierung und deren Beitrag für die Bildung der Identität.
Politische Bildung (in den Fächern Sozialkunde / Gemeinschaftskunde / Politik / Gesellschaftswissenschaften)
Demokratie verlangt verantwortungsvolle Teilnahme der Bürger an den Anliegen der „polis“. Verantwortliche demokratische Teilnahme setzt Urteilsfähigkeit, Urteilsfähigkeit setzt Informiertheit voraus. Dazu vermittelt Politische Bildung in diesen Fächern Kenntnisse, Einsichten, Methodenkompetenz und den Aufbau sowie die Vertiefung demokratischer Werte. Dies umfasst unter anderem Kenntnisse über
- Strukturen und Prozesse der Gesellschaft,
- wirtschaftliche Zusammenhänge,
- Aufgaben der Sozialpolitik,
- Dimensionen der Rechtsordnung.
Politische Bildung vermittelt Einsichten in komplexe Zusammenhänge, die sich gründen auf das Wissen um Institutionen und Prozesse der Demokratie, auf das Verständnis für Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Schüler erlernen in diesem Fach Methoden zur Erschließung der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Politische Bildung (in den Fächern Sozialkunde / Gemeinschaftskunde / Politik / Gesellschaftswissenschaften) ist zentrales Fach in einer Erziehung zur Demokratie. Sie leistet wichtige Beiträge auf dem Weg zur Entwicklung der Schule als „polis in der polis“ (von Hentig). Das Fach vermittelt die Fähigkeit, politische Sachverhalte zu analysieren und zu beurteilen: Es erzieht zu kritischer Loyalität gegenüber den Wertgrundhaltungen des Staatswesens. Dabei strebt Politische Bildung in diesen Fächern
- den Aufbau von Werthaltungen als Grundausstattung eines verantwortlichen Staatsbürgers sowie
- den Abbau von Vorurteilen und das Eintreten für eigene und fremde Rechte an.
Politische Bildung bahnt demokratische Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft an. Dabei vermittelt sie die Fähigkeit, eigene Interessen einzubringen und sie entsprechend den Regeln einer offenen Gesellschaft im pluralistischen Streit umzusetzen. Die geschichtliche Erfahrung im Deutschland des 20. Jahrhunderts gebietet, dieses Fach, dessen Einführung nach dem 2. Weltkrieg als unbestrittener Fortschritt auf dem Wege zur Demokratisierung der Gesellschaft galt, zu stärken.
Würzburg, 21. Oktober 1995
- Verband Deutscher Schulgeographen e.V., 1. Vorsitzender Dr. Dieter Richter
- Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V., 1. Vorsitzender Rolf Ballof, 1. Vorsitzender
- Deutsche Vereinigung für Politische Bildung e.V., 1. Vorsitzende Dorothea Weidinger,