Geschichte hat Zukunft – Zur Aktualität der historisch-politischen Bildung im Geschichtsunterricht

 

Von Dr. Peter Johannes Droste und Dr. Frank Schweppenstette 

Geschichte ist in, Geschichte ist kontrovers, Geschichte ist aktuell. Es gibt kaum Politiker und Politikerinnen, die den Blick nicht in die Geschichte richten, wenn es darum geht, die eigene Argumentation zu untermauern und die Legitimation der eigenen Politik zu stärken. 

Gerade der moderne Geschichtsunterricht leistet einen erheblichen Beitrag zur politischen Bildung unserer Jugendlichen. Er legt das historische Fundament, von dem aus unsere Jugendlichen die moderne Welt befragen und vor allem kritisch hinterfragen können.  

Was macht modernen Geschichtsunterricht aus? Da ist zunächst das Prinzip der Problemorientierung. Im Geschichtsunterricht werden nicht einfach nur historische Personen oder Sachverhalte wie zum Beispiel Napoleon oder die Weimarer Verfassung „behandelt“. Es wird auch nach deren Bedeutung und Relevanz gefragt, in unserem Fall zum Beispiel, ob Napoleon der Totengräber oder Vollender der Ideen der Französischen Revolution gewesen ist oder ob die Weimarer Verfassung für die damalige deutsche Gesellschaft zu demokratisch verfasst war und das Scheitern der Weimarer Republik gewissermaßen schon in ihr angelegt war.

PROFIL Ausgabe 6/2021 Titelbild
Alina (15) besucht die 10. Klasse eines Berliner Gymnasiums. Eines ihrer Lieblingsfächer ist Geschichte. Ausflüge in ein Museum bereichern ihr Wissen (hier: Neues Museum Berlin, vor Kumanischen Figuren aus dem 12. Jahrhundert), Credit: Marlene Gawrisch

Verständnis von etwas, nicht Verständnis für etwas 

Solche Fragestellungen und Probleme ermöglichen es unseren Schülerinnen und Schülern, eigene Antworten zu finden und eigene Urteile zu treffen. Sie lernen zu verstehen, wie Menschen in der Vergangenheit gelebt haben, sie lernen auch, warum und nach welchen Wertmaßstäben die Menschen so gehandelt haben, wie sie gehandelt haben. Es geht im Geschichtsunterricht also darum, ein historisch fundiertes „Verständnis von etwas“ aufzubauen, was aber, und das ist wichtig zu betonen, nicht zugleich bedeutet, „Verständnis für etwas“ zu haben. Hier trennen wir im Geschichtsunterricht zwischen Sachurteil und Werturteil. Bei einem Sachurteil beurteilen die Schülerinnen und Schüler einen historischen Sachverhalt ohne persönlichen Wertebezug, also „aus seiner Zeit heraus“ mit Hilfe von Quellen und Darstellungen. Die Schülerinnen und Schüler betrachten diesen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven, sie beziehen auch aktuelle Forschungsergebnisse in ihr Sachurteil mit ein. Bei einem Werturteil hingegen „bewertet“ man noch zusätzlich einen historischen Sachverhalt vom „heutigen Standpunkt“ aus. Dies geschieht nicht einfach so „aus dem Bauch heraus“, gleichsam als bloße Meinungsäußerung, sondern die Schülerinnen und Schüler legen in ihrer Begründung die eigenen Wertmaßstäbe offen. Diese Wertmaßstäbe sind unsere heutigen Normen und Werte, die auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung basieren.  

Historische Bildung war und ist stets unvollkommen 

Wie ist es um die historische Bildung unserer Jugendlichen bestellt? Schwer zu sagen, aber die historisch-politische Bildung ist ein Dauerthema. Sie wird immer dann eingefordert, wenn etwas von der Politik in großen Reden und Erklärungen gefordert wird. Sie ist aber eine Chimäre und hat den Rang der Unerreichbarkeit. Ähnlich wie Gerechtigkeit und die Menschenrechte, war und ist historische Bildung stets unvollkommen. Immer wenn es zu antidemokratischen, rassistischen oder antisemitischen Ausschreitungen kommt, wird der Ruf nach mehr historisch-politischer Bildung für Jugendliche laut. Damit ist, wenn auch indirekt, immer auch ein Lehrer- oder Schülerbashing verbunden. Entweder würden die Themen im Unterricht nicht genügend behandelt, so der Vorwurf, oder die Schülerinnen und Schüler können oder wollen das Gelernte nicht umsetzen. Die Komplexität und vor allem die Notwendigkeit historisch-politischer Bildung wird immer dann deutlich, wenn sie als defizitär erscheint, oder die Ursachenforschung für diesen Mangel in Beschuldigungen umschlägt. Selbstverständlich sehen die Curricula in der Bundesrepublik einschlägige Themen der Demokratie- und Antiholocausterziehung im modernen Geschichtsunterricht vor. Es gibt auch viele Debatten über die Quantität, die Inhalte und die Qualität von Geschichtsunterricht. Wenn man aber die Schnittmenge der seriösen Forschungen und Studien zu diesem Problemkomplex durchsieht, werden rasch Themen und Kategorien sichtbar, auf die der Geschichtsunterricht, wie kaum ein anderes Fach, reagieren kann. 

Adäquate Ausrichtung auf die Zielgruppe 

Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands arbeitet seit Jahrzehnten an der Aktualisierung und Reform der Inhalte des Geschichtsunterrichts. Was im Streit um Inhalte und Kompetenzen in vielen Lehrplänen aber immer noch zu kurz kommt, ist eine adäquate Ausrichtung auf die Zielgruppe. In einer Gesellschaft, die zu einem respektablen Anteil aus Menschen mit Migrationshintergrund besteht, wird auf deren Herkunftsgeschichte noch immer zu wenig Rücksicht genommen. Es geht bei diesem Ansatz auch um den Umstand, dass diese Jugendlichen, gerade weil sie zu den Herkunftsländern eine innige Beziehung haben, die Narrationen von den Eltern oder anderen Bezugspersonen oft unhinterfragt übernehmen. Das Problem der doppelten historischen Narration ist auch im innerdeutschen Zusammenhang bekannt. 

Die Konkurrenz von Narrationen ist nicht ungewöhnlich, sondern in gewisser Weise der Normalfall. Eine Schülerin oder ein Schüler mit türkischen oder palästinensischen Wurzeln, die oder der im Unterricht nichts oder zu wenig über die Geschichte seines Herkunftslandes erfährt, wird den Narrationen seines familiären Umfeldes mehr Glauben schenken als jemand, der im Geschichtsunterricht quellenkritische Arbeitsweisen eingeübt und Methodenkompetenz aufgebaut hat. Der moderne Geschichtsunterricht in Deutschland reflektiert seine Narrationen und führt zu einer reflektierten, d.h. unideologischen Geschichts- und Gegenwartsauffassung. Deshalb erschöpft sich der Geschichtsunterricht nicht bloß in historisch-politischer Bildung, sondern liefert vor allem die Methodenkompetenz für mündige Staatsbürgerinnen. Sein Ziel ist zwar nicht primär die Demokratieerziehung, aber die Chance ist sehr hoch, dass er zur Erziehung überzeugter Demokraten beiträgt.    

Das historische Exempel und die Erkenntnis der Perspektivität historischen und gegenwärtigen Handelns ermöglichen erst die Art von Situationsanalyse, die für (sinnstiftendes) politisches Handeln erforderlich ist. Dabei ist eine gewisse politische „Zurückhaltung“ der Lehrenden notwendig, wie das Überwältigungsverbot im Beutelsbacher Konsens fordert. Doch beim „Neutralitätsgebot“ müssen wir aufpassen. Lehrerinnen und Lehrer sind zu Recht aufgefordert, sich in politischen Fragen zurückhaltend zu äußern, also „nicht zu überwältigen“. Aber die Schulgesetze der Bundesländer und die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes bilden – kantisch gewendet – die „regulative Idee“, nach der die Lehrenden im Unterricht agieren sollen, und das umfasst auch das Einstehen und Eintreten für diese Ordnung. Daher kann es eine Neutralität im strengen Sinne für Lehrkräfte eigentlich nicht geben, oder anders ausgedrückt: Zurückhaltung bei der Äußerung der eigenen politischen Meinung, auf jeden Fall ja, Zurückhaltung bei der Einübung der Lernenden in die Diskursfähigkeit innerhalb des konsensuellen Rahmens unseres Demokratieverständnisses, nein. Auf diesen wichtigen Unterschied sollten wir immer wieder achten.  

Macht des rationalen Denkens vermitteln 

Die einzige Chance, die bis zur Manipulation reichende Indoktrination außerschulischer Narrationen zu unterbinden, ist die „Macht des rationalen Denkens“, das wir den Schülerinnen und Schülern im Geschichtsunterricht vermitteln. Ein solcher Lehrinhalt schränkt keine Rechte und Freiheiten ein, hilft aber gefährliche, rassistische, homophobe, antisemitische und andere Ideologien zu enttarnen. Die Aufklärung über illegale und strafrechtliche Zusammenhänge gehört dazu. Für strafrechtlich relevante Überschreitungen in Schule und Unterricht haben die Lehrerinnen und Lehrer bewährte Vorgehensweisen, für die tagtägliche Auseinandersetzung mit rassistischen und antisemitischen Äußerungen und Vorurteilen eher nicht. Schule und Unterricht dürfen die Welterklärung nicht den kontingenten Narrationen von Partikulargesellschaften überlassen, sondern müssen immer wieder das rationale und vernünftige Argument suchen und verwenden. Die Überlegenheit der Wissenschaften gegenüber den vielen -Ismen liegt in der Rationalität und ihrer Methoden, die zu differenzierten Urteilen führen. Vorurteile und Dogmen sind für den Weg der Erkenntnis wenig hilfreich. Der Vorteil des Faches Geschichte ist, dass es die Methoden und Dogmen der Ideologien und -Ismen untersucht und zum Teil historisch herleiten kann. Es geht hierbei nicht um ein „Rechthaben“, sondern um ein Differenzieren und Verstehen. 

Die Fachlichkeit des Faches Geschichte könnte auf lange Sicht in Gefahr geraten, wenn der Trend, den Geschichtsunterricht zu kürzen oder im Rahmen eines Integrationsfaches zu unterrichten, anhalten sollte. 

In vielen Staaten, gerade in Europa, käme niemand auf die Idee, das Fach Geschichte zu kürzen und es nicht durchgängig bis zum Schulabschluss unterrichten zu lassen. Ausländische Kolleginnen und Kollegen würden unsere Diskussionen um Stundenkürzungen auch gar nicht nachvollziehen oder gar verstehen können, warum in Deutschland der gesellschaftswissenschaftliche Bereich, vor allem in der historisch-politischen Bildung, auf Dauer so ausgehöhlt wird, während in offiziellen Verlautbarungen die historische Bildung immer wieder als existenziell für unsere Gesellschaft beschworen wird. Ein klares Bekenntnis zum hohen Stellen- und Bildungswert des Faches Geschichte, verbunden mit einer vernünftigen Stundenausstattung von Seiten der Landesregierungen, wäre ein wichtiges Signal an unsere Kolleginnen und Kollegen und zugleich eine Anerkennung für die hervorragende Arbeit, die diese täglich in den Schulen leisten.  

Den Schülerinnen und Schüler gehört die Zukunft. Viele wollen Verantwortung übernehmen. Dafür brauchen sie Wissen über die Ideen und Fehler der Vergangenheit. Je größer das Maß an historischer Bildung, desto größer stehen die Chancen auf eine humane und demokratische Zukunft.